Donnerstag, 19. September 2024
Überhörte Beiträge in einer rohen Debatte
Am 23. August wurden auf einem Stadtfest in Solingen bei einem Messerangriff drei Menschen getötet und acht Menschen (teils schwer) verletzt. Als mutmaßlicher Täter wurde am folgenden Tag ein Syrer festgenommen. Ein islamistischer Hintergrund des Anschlags gilt als gesichert.
Neben dem Entsetzen über die Tat und der Trauer um die Opfer wurden in den folgenden Tagen und Wochen eine Vielzahl an Meinungen, Positionierungen, Stellungnahmen, Forderungen etc. formuliert. Die Debatte wird dabei durch Äußerungen geprägt, die einander im Grad der pauschalen Migrationskritik zu übertrumpfen versuchen. Sie reichen von der Erklärung einer „nationalen Notlage“ bis zur Migrationsfrage als der „Mutter aller Probleme“.
Natürlich gibt es auch hiervon abweichende Äußerungen. Doch sie prägen nicht den Tenor der Debatte. Es sind überhörte Debattenbeiträge. Drei Beispiele:
Erstens der Sonderbeauftragte für Flüchtlingsfragen der Deutschen Bischofskonferenz, Stefan Heße. Er weist u. a. darauf hin, dass „ein Überbietungswettbewerb asylrechtlicher Verschärfungen“ niemandem hilft (Link).
Zweitens der Ministerpräsident Thüringens, Bodo Ramelow, der im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland sagt: „Deshalb kriege ich langsam Angst vor der gesellschaftlichen Debatte, die von spektakulären und sehr negativen Fällen dominiert wird und nicht von den vielen Fällen, in denen Integration gelingt. Stattdessen wird beim derzeitigen Überbietungswettbewerb der Abschreckungsgrausamkeiten leider auch intensiv die Ausländerfeindlichkeit getriggert. Am Ende kommt nur das Gefühl raus: Die AfD hat es ja gesagt. Jetzt sagen es die anderen auch.“ (Link)
Und drittens Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung. Er sieht in der aktuellen Debatte „eine völlig undifferenzierte, eine rohe Debatte, eine Debatte ohne Zwischentöne, eine Debatte ohne Herz und Verstand. Obwohl die Flüchtlingszahlen nicht steigen, sondern sinken, wird von einem Notstand geredet. Der Notstand besteht nicht in der Zahl der Flüchtlinge, er besteht in der Art und Weise, wie darüber geredet wird.“
Vor diesem Hintergrund folgen hier Hinweise auf einige Beiträge, die den herrschenden Narrativen nicht einfach folgen. Sie geben Impulse, differenzieren, analysieren und stellen gefühlte Bedrohungen und reale Risiken ins Verhältnis:
Murat Kayman, Beirat der Alhambra Gesellschaft, kritisiert im Interview mit dem Kölner Domradio die Untätigkeit der Islamverbände, sich mit den destruktiven, gewalthaltigen Aspekten der eigenen Religion auseinanderzusetzen (Link). Ein etwas längeres Interview ähnlichen Inhalts kann man beim Deutschlandfunk auch nachhören (Link).
Felix Neumann, Redakteur bei katholisch.de und stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft Katholischer Publizistinnen und Publizisten (GKP), befasst sich mit der „Mutter aller Probleme“ und kommt zum Ergebnis, dass es sich bei der Migrationsfrage eher um die „Tochter aller Probleme“ handelt: „Mit zeitgeistiger Härte löst man keines der Probleme, die zu Migration führen.“ (Link).
Der Journalist Philipp Greifenstein hört genau hin, wie der Bundesvorsitzende der CDU, Friedrich Merz, nach dem Anschlag agiert. In einem ausführlichen Kommentar für Die Eule, dem Magazin für Kirche, Politik und Kultur, kommt er zu der Einschätzung, dass Friedrich Merz als knallharter Rechtspopulist unterwegs ist (Link).
Christian Stöcker, verantwortlich für den Studiengang Digitale Kommunikation an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), befasst sich auf Spiegel online mit gefühlten Bedrohungen und realen Risiken (Link). Er wendet sich gegen eine „Politik auf Basis von gefühlter Bedrohung, Ressentiment und Wut.“
Und schließlich: Fakten helfen bei einer sachlichen Debatte. Der Mediendienst Integration trägt aus der Forschung Daten zu Messerkriminalität zusammen und bewertet sie (Link). Auch ständig aktualisierte Zahlen zu Flüchtlingen sind dort zu finden (Link) ebenso wie zu extremistischem Islamismus und Terror (Link).
Bereits zwei Monate vor dem Solinger Terroranschlag erschien im Theologischen Feuilleton feinschwarz zum Weltflüchtlingstag ein Interview mit Pfarrerin Josephine Furian. Sie ist Seelsorgerin in der Erstaufnahme Eisenhüttenstadt und Pfarrerin für Flüchtlingsarbeit im Sprengel Görlitz der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz. Im Interview gibt sie einen Einblick in das Leben von Flüchtlingen und formuliert ihre Erwartungen an die Kirchen: „Wir sind gerufen »die Vertriebenen zu verstecken und die Geflüchteten nicht zu verraten« (Jesaja 16,3). Das bedeutet Kritik in Wort und Tat gegenüber der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und der Bundesregierung, die die Zugänge zum Asyl immer weiter einschränken.“ (Link).
Wovon fühlen Sie sich angesprochen?