Donnerstag, 20. April 2023

Von Shakespeare lernen

Stefan Seckinger würdigt das Gesamtwerk William Shakespeares und unterzieht die Komödie 'Der Kaufmann von Venedig' einer näheren Betrachtung. Dabei findet er die christliche Botschaft.

Zum Autor

William Shakespeare wurde am 26. April 1564 in Stratford-upon-Avon getauft und starb dort am 23. April 1616. Insgesamt 38 Dramen und epische Versdichtungen gehen auf ihn zurück. Er schrieb seine Schauspiele für seine eigene Theatergruppe und spielte dabei auch selbst die ein oder andere Rolle. Als Londoner Theaterunternehmer und Miteigentümer des 'Globe Theatre' gewann er durch seine Stücke Vermögen und Einfluss. 

Shakespeare als Psychologe

Shakespeares ausgezeichnete Beobachtungsgabe dringt in die Tiefen der menschlichen Seele. Die äußere Bühne bzw. der historische Hintergrund dient ihm dazu, die innere Seelenlandschaft zum Ausdruck zu bringen. So werden die seelischen Prozesse zur Anschauung gebracht in der Szenerie des aufgeführten Dramas. Dabei belehrt Shakespeare nicht, er ist kein Moralist, spart mit Tadel und Lob. Die großen Charaktere seiner Stücke sind komplex und nicht in eine moralische Schublade zu stecken. Da gibt es kein einfaches 'gut' oder 'böse', sondern beides ist zugleich vorhanden, vermischt sich, ja bedingt sich zuweilen. Damit bringt er das Leben auf die Bühne, so wie es eben ist: in seiner Buntheit, in seiner Dramatik und Zerrissenheit. Durch Rollentausch und Verkleidungen bzw. bewusste Verwechslungen (etwa die Frau als Mann) wird die Ambivalenz der Charaktere deutlich.

Andererseits gibt es eine klare ethische Perspektive. Der Wert und die Grenzen der Freiheit ('Julius Cäsar') sowie der Gerechtigkeit ('Maß für Maß') werden kritisch hinterfragt und auf Kriterien hin untersucht, wie diese menschenfreundlich verantwortlich gelebt werden können. In Shakespeares Ethik richten sich die Menschen durch ihr Handeln und die dahinter stehende Haltung selbst; die Stimme Gottes wird im Inneren vernommen, das Gewissen meldet sich ('Macbeth'). Eine Rechtsprechung von außen ändert den Betroffenen in seiner Haltung nicht, kann bestenfalls Anlass sein, diesen entscheidenden inneren Weg der Neuausrichtung anzustoßen ('König Lear'). 

Shakespeare bietet im Grunde Charakterstudien in Form seiner Dramen an, er bringt Persönlichkeitsstile und Persönlichkeitsstörungen auf die Bühne. Die wichtigen Themen des Lebens sind auch jene im Theater, es geht um Liebe und Hass ('Romeo und Julia' und ihre verfeindeten Familien), Begehren und Eifersucht ('Othello'), um Laster wie Neid ('Wie es euch gefällt') und Habgier ('Der Kaufmann von Venedig'). Ein Kernanliegen ist ihm, die Ehe und Familie zu loben und Liebende zueinanderzubringen ('Verlorene Liebesmüh', wobei auch seine zahlreichen Sonette davon Zeugnis geben). Er lädt dazu ein, der Liebesnot anderer zu Hilfe zu kommen ('Ein Sommernachtstraum'), Liebe zu ermöglichen ('Ende gut, alles gut'), jedoch ohne kupplerische Manipulation ('Troilus und Cressida'). Dabei steht der Buchstabe des Gesetzes unter dem Kriterium der Ermöglichung des Lebens ('Maß für Maß'). 

Da die ganze Welt eine Bühne ist, spielt jeder seine Rolle - auf der Bühne, hinter der Bühne und vor ihr. Die Fiktion gibt die Wirklichkeit wieder und ist von ihr nicht mehr zu trennen. Ein nahezu durchgängiges kommunikationspsychologisches Stilmittel ist dabei die 'sich selbst erfüllende Prophezeiung' (besonders anschaulich in 'Viel Lärm um nichts' bzw. 'Ein Wintermärchen'). Psychologische Abgründe öffnen sich v. a. in den späten Tragödien des Meisters, worunter 'Hamlet' die Psychoanalyse bis heute beschäftigt.

Der Kaufmann von Venedig

William Shakespeares The Merchant of Venice wurde erstmals vermutlich 1605 aufgeführt. Die Komödie spielt im 16. Jahrhundert in Venedig auf dem Landsitz Belmont. Antonio, der Kaufmann von Venedig, leidet unter Schwermut. Freunde vermuten, dass sein Handel ihm Sorgen bereitet. Doch Antonio ist nicht auf der Suche nach Besitzstandsvermehrung. Vielmehr will er seine Rolle in der Welt finden, den Sinn seines Lebens. Da erscheint Bassanio, sein Verwandter; er möchte um seine Geliebte Porzia werben, doch dazu fehlen ihm die finanziellen Mittel, welche er vom Kaufmann erbittet, der sich das Geld aber selbst bei einem Juden der Stadt leihen muss. Dieser Jude mit Namen Shylock hasst Antonio, da der Kaufmann ohne Zinsen zu nehmen Geld verleiht. Als Gegenleistung für die erbetene Summe verlangt Shylock ein Pfund Fleisch, das er sich aus Antonios Körper schneiden will, falls dieser nicht rechtzeitig seine Schulden bei ihm begleicht. Dies trifft auch genau so ein und Shylock besteht darauf, diesem 'Dummkopf, der umsonst verleiht', das Herz herauszuschneiden. Vor Gericht kommen schließlich der Kaufmann und der Jude zusammen. Der Rechtsbeistand von Padua (die verkleidete Porzia) fordert Shylock zunächst auf, barmherzig zu sein, er solle auf sein Recht freiwillig verzichten. Schließlich sei die Barmherzigkeit ein 'Attribut der Gottheit selbst'. Er solle eingestehen, dass nach dem Recht kein Mensch sein Heil erlangen würde:

'Suchst du um Recht schon an, erwäge dies:
Dass nach dem Lauf des Rechts unser keiner
Zum Heile käm; wir beten all um Gnade,
Und dies Gebet muss uns der Gnade Taten
Auch üben lehren.'

Shylock antwortet auf die biblisch-paulinische Auffassung ebenso neutestamentlich: 'Mein Tun komm auf mein Haupt'. So darf der Jude dem Kaufmann das Fleisch um das Herz herausschneiden - aber nur, sofern es exakt ein Pfund beträgt! Und weiter ermahnt die verkleidete Porzia: Von Blut war nicht die Rede! Dies darf dabei nicht vergossen werden, sonst müsse der Jude sein Leben und seinen ganzen Besitz hergeben. So lenkt Shylock doch noch ein und das von ihm eingeforderte Recht Venedigs fällt unerbittlich auf ihn zurück. Um wenigstens einen Teil seines Besitzes zu retten, lässt er sich taufen.

Antijudaismus?

Bei Shakespeare nehmen in den einzelnen Dramen unterschiedliche Figuren die Rolle des 'Vice' ein (lat. vitium für Unvollkommenheit, engl. für Laster). Der Schauspieler  personifiziert die Sünde, er repräsentiert eine bestimmte verwerfliche Grundhaltung und deren scheinbar unwiderstehliche Versuchung. Im 16. Jahrhundert verschwindet damit der Teufel von der Bühne (im mittelalterlichen Mysterienspiel war er noch als Allegorie des Bösen dort präsent), seinen Part übernimmt einer der Agierenden. Das Böse tritt nunmehr in einer menschlichen Gestalt im Theater auf, eben in der des Bösewichts. Der Blick wird so auf den Charakter eines Menschen, auf seine Grundhaltung in ethischen Fragen gelenkt. Im 'Kaufmann von Venedig' übernimmt diese Rolle der Jude Shylock, der als Wucherer tätig ist. 

Im Mittelalter galt seit dem 12. Jahrhundert ein allgemeines Zinsverbot, doch Juden unterlagen diesem Verbot nicht unmittelbar, d. h. sie konnten gewerbsmäßig Geld verleihen und mussten auch als Geldverleiher tätig sein, da ihnen die Mitgliedschaft in den Zünften verwehrt blieb - somit konnten sie auch nicht Kaufmann werden! Als Wucherer verschrien zogen sie zuweilen den Hass der Christen auf sich, was sich im mittelalterlichen Antijudaismus widerspiegelt. Noch 1745 betonte Papst Benedikt XIV. in seiner Enzyklika 'Vix pervenit' die Unsittlichkeit des Zinsnehmens (was erst durch Pius VIII. 1830 aufgehoben wurde). 

In 'Der Kaufmann von Venedig' geht es dementsprechend um die Sünde der Habsucht. Der Kaufmann vermasselt dem Wucherer das Geschäft, die Zinsen in Venedig sind Shylock viel zu niedrig. Für ihn ist der gute Mensch der finanziell Erfolgreiche! Das Christentum steht hier für den nicht auf Gewinn abzielenden Geldverleih bzw. die uneigennützige Hilfe, das Judentum für den auf Gewinn abzielenden Geldverleih (das Zinswesen) und damit für die eigennützige Hilfe. 

Die Figur des  Shylock wurde später u. a. von Karl Marx mehrfach ins Feld geführt, um seiner  antijüdischen Kapitalismuskritik Ausdruck zu verleihen. Er stehe für ein egozentrisches Interesse am eigenen Geldvorteil sowie an der Orientierung am bloßen Buchstaben des Gesetzes. Shylock gilt nunmehr als Allegorie für Ausbeutertum und rücksichtslose Geldvermehrung. Eine ganz andere Interpretation gibt Heinrich Heine in 'Shakespeares Mädchen und Frauen'. Er nennt Shylock 'die respektabelste Person im ganzen Stück', denn mehr als das Geld liebe er die Genugtuung. 

Shakespeare verurteilt also nicht das Judentum, sondern die Habsucht, deren Vertreter auf der Bühne auch ein Christ sein könnte.

Der ethische Horizont im Schauspiel

Porzia ist eine vielumworbene Frau. Ihr verstorbener Vater gab ihr auf, nur denjenigen sich zum Manne zu erwählen, der ein Rätsel lösen könne. Jeder Freier seiner Tochter hat zu wählen zwischen drei Kästen: Gold, Silber und Blei. Gold ist das, was der Mann begehrt, Silber, was er zu verdienen meint, Blei das, wofür er alles hingibt und dransetzt - so lauten die Inschriften auf den Kästchen. Das Gold steht also für das Begehren und den äußeren Schein (Gier), das Silber für das Verdienst, die eigene Leistung (das Gewinnstreben), das Blei hingegen für die Entlarvung des äußeren Scheins und die Relativierung der eigenen Leistung. Der erste Freier wählt Gold und findet in dem Kästchen nicht das Bildnis Porzias, sondern einen Totenkopf mit einem Zettel: 'Es ist nicht alles Gold, was glänzt':

All that glisters is not gold;
Often have you heard that told.

Der nächste Freier wählt Silber, da er auf seinen Verdienst bauen will. Er findet das Bild eines blöden Gecken, der nur Schatten nachjagt, das eigentliche Leben aus den Augen verlierend:

Some there be that shadows kiss;
Such have but a shadow’s bliss. 

Nun steht Bassanio vor der Wahl. Er wählt nicht dem Anscheine nach, sondern das Kästchen mit Blei und gewinnt damit Porzia, deren Bildnis in dem Kästchen war. 

You that choose not by the view
Chance as fair and choose as true.

Es geht also darum, sich nicht durch äußeren Schein blenden zu lassen, der Beziehung zu den Menschen mehr Platz einzuräumen als der Gier nach materiellen Gütern. Habgier ist jedoch nicht die schwerwiegendste Todsünde. Das korrespondierende Laster der Verschwendung wurde in der Theologiegeschichte als ebenso verwerflich angesehen. Es gilt, den Mittelweg zu finden, den rechten Umgang mit Geld und Vermögen. Aber auch die größeren Laster wie Neid und vor allem Hochmut sind in der Komödie angesprochen. Shakespeare mahnt, sich nicht vom Besitz besitzen zu lassen, dessen äußerer Schein eine trügerische Versuchung darstellt. Wer andererseits auf den eigenen Verdienst pocht, ist ein Narr. Es gilt der Aufruf, hinter den Schein zu schauen, der gewahrt werden will und doch nur eine Maske in übernommenen Rollen des Lebens ist. Auf der Bühne ermutigt Shakespeare, hinter die Bühne zu schauen, hinter die eigenen Masken, die wir nur allzu bereitwillig tragen, weil wir dadurch bei anderen Anerkennung finden (wollen). Die eigene Schauspielkunst zu entlarven, heißt demnach auch, zu den eigenen Fehlern, Schwächen und Bedürfnissen zu stehen. In diesem Sinn hält der Narr den anderen nicht nur einen Spiegel vor, er ist ihnen schlicht und ergreifend weit voraus!

Die christliche Botschaft

'Gnade vor Recht' - dieses ethische Leitprinzip findet in der Komödie 'Der Kaufmann von Venedig' seinen Ausdruck. Dass dabei die Gnade mit dem Christentum und das Gesetz mit dem Judentum gleichgesetzt wird, ist nur vordergründig. Shakespeare ist ein Meister in der Darstellung von Ambivalenz. Es geht darum, die in jedem Menschen in Widerstreit liegenden Kräfte wahrzunehmen, um diese moralisch zu qualifizieren, nicht um den Menschen selbst zu qualifizieren. In diesem Fall geht es um die Frage nach der Gerechtigkeit, die in Spannung zur Barmherzigkeit steht. 

Paulus stellt die Gnade vor und über das Gesetz: 'Ihr steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade' (Röm 6,14). Im Johannesevangelium lesen wir: 'Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus.' (Joh 1,17). Doch weder in der Hl. Schrift noch im Werk Shakespeares geht es dabei um eine Gegenüberstellung von Judentum und Christentum, sondern um die Frage an jeden Einzelnen, wie er es mit der Barmherzigkeit hält. Im Falle des Schauspiels wird deutlich, dass durch ein bloßes Berufen auf Recht, Rechtsprechung und Gerechtigkeit die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt. Denn das Recht beruft sich auf die Gleichheit aller, die doch nie gegeben ist. Es kennt die Gnade nicht, ohne die zumindest vor Gott keiner bestehen könnte. Keiner ist aufgrund seiner Werke vor Ihm gerecht, sonst wäre auch Erlösung eine Farce und Gnade im Grunde nur ein ungerechtes Ärgernis. Gott begnadigt, seine Barmherzigkeit übersteigt jede formale Gesetzeslogik, die den Menschen doch nicht durch äußere Vorschrift und Strafandrohung bzw. Strafvollzug auf den rechten, inneren Weg der Umkehr zu bringen vermag. 

Dies verdeutlicht auch ein anderes Stück Shakespeares, das die Grenzen einer formalen Rechtsprechung vor Augen führt. Die Komödie 'Maß für Maß' behandelt den Ausspruch 'Nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden' (Mk 4,24). Den Gesetzeshütern geht es darum, dass das Recht von jedermann eingehalten werden muss: keine Ausnahmen! Dazu bedarf es der Androhung und Durchführung von Strafe, denn 'der Strafe Tod wird auch zum Tod des Rechts!' Wer zu nachsichtig ist, erlaube die böse Tat, 'wenn man der bösen Lust Pardon gewährt, anstatt sie zu bestrafen' und 'Verzeihung ist nur Mutter neuer Schuld.' Doch der in Stellvertretung des guten Herzogs streng Regierende (er 'folgt genau der Satzung totem Wort') hat selbst Dreck am Stecken und misst mit zweierlei Maß. Er selbst setzt sich über das Gesetz hinweg - andere müssten für dieses Verhalten ihren Kopf lassen! Am Ende steht er vor Gericht und ist froh, dass jemand nun für ihn um Gnade bittet: 'Die besten Menschen sind gemacht aus Fehlern und wohl die meisten werden umso viel besser, als sie ein wenig schlecht waren!' Es geht darum, die Sünde klar zu benennen zum Wohl des Sünders; die Sünde auszulöschen, nicht den Sünder. 

Ausblick: Rollenübernahme

Für den Kaufmann von Venedig ist die Welt eine 'Bühne, und jeder spielt seine Rolle'. Doch diese Rollen sind uns nicht von außen zugeschrieben. Wir brauchen keine vorgefertigten Texte auswendig zu lernen. Wir haben die Möglichkeit, die Rolle in dieser Welt frei zu wählen, die unserer inneren Haltung entspricht. Dabei sind die Mitspielenden vor Täuschungen ebenso wenig gefeit wie wir selbst - denn zuweilen spielt der Mensch sich selbst und anderen nur etwas vor und klammert sich an die Maske, die jene ihm auferlegen, um angepasst mitspielen zu dürfen und ein wenig Applaus zu erhaschen.  

Zu guter Letzt sei darauf verwiesen, dass jegliche Interpretationen hinter Shakespeares Werken weit zurück bleiben. Shylock selbst äußert sich in 'Der Kaufmann von Venedig' im Blick auf die Vielfalt möglicher Bibelauslegungen: 'Der Teufel kann sich auf die Schrift berufen'. Das gilt auch für die Schriften Shakespeares: 'As You Like It'! 

DDr. Stefan Seckinger
Hochschulpfarrer der Ökumenischen CampusGemeinde Kaiserslautern

Der Beitrag erschien zunächst im 'Klerusblatt' des Klerusverbandes Bayern (Klerusblatt, 97. Jg., S. 36-38).

Literatur

William Shakespeare: The Complete Works, New York 2005.
William Shakespeare: Gesammelte Werke, Köln 2013.